Die Flucht meiner Mutter und die Verbindung zur Ukraine

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Die Flucht meiner Mutter und die Verbindung zur Ukraine

Meine Mutter stammt aus Pommern, also von der Ostseeküste. Keine 20 km von Kolberg, dem heutigen Kołobrzeg in Polen entfernt. Aus Erzählungen meiner Mutter und meiner Großeltern kann ich mich an die Formulierung erinnern »als der Russe kam, mussten wir fliehen«. Letztendlich haben sie es geschafft. In mehreren Etappen und Zwischenstationen nach Westdeutschland. Nie war es ein Thema gewesen, wer eigentlich die Leute waren, die ihr Haus in Pommern übernommen hatten. Es waren Polen, das war klar. Später gab es mal Reisen in das Heimatdorf. Auch Gespräche mit den neuen Hausbewohnern. Heruntergekommenes Haus. Viel Alkohol. Wohl in erster Linie der Versuch des Anknüpfens an die Kindheitserinnerungen. Verständlicherweise kein Interesse am Schicksal der »neuen« Dorfbewohner, der Polen.

Vertreibung auch bei den »Siegern«

Erst vor ungefähr 10 Jahren machte ich mir eine komplett andere Vertreibungsgeschichte bewußt. Eine Vertreibungsgeschichte, die zumindest aus Sicht meiner Familie nicht die »Kriegsverlierer«, sondern eigentlich die »Kriegsgewinner« betraf. Es gab wohl nach dem zweiten Weltkrieg ein Einverständnis darüber, dass etnisch homogene Staaten weniger Konfliktpotenzial besäßen. Dieser Idee folgend sollte das Staatsgebiet vom zukünftigen Polen nicht deckungsgleich mit dem Vorkriegspolen sein. Auch die westlichen Alliierten unterstützen dieses Vorhaben. Im Vorkriegspolen waren nämlich fast ein Drittel der Bürger ethnisch keine Polen, sondern ebenso Weißrussen und Ukrainer u.a. Zukünftig sollten die politischen Grenzen auch ethnische Grenzen sein.

Die westlichen Grenzen sollten daher weiter nach Westen verschoben werden (Oder-Neiße-Linie, ehemals deutsche Gebiete), während die Grenze zur Sowjetunion ebenfalls teilweise nach Westen verschoben wurde (Grenzen von 1919). Es kam zu einem Umsiedelungsabkommen auf Gegenseitigkeit mit den Teilrepubliken der Sowjetunion (Weißrußland und Ukraine – Polen war ja keine Sowjetrepublik). Dabei sollten »freiwillig« weißrussische und ukrainische Polen nach Polen übersiedelt werden und polnische Weißrussen und Ukrainer nach Belarus bzw. in die Ukraine. Dass dieser ethnische Austausch keineswegs aus freien Stücken geschah braucht wohl nicht erwähnt zu werden. Viele Ukrainer wollten sich der »freiwilligen« Umsiedelung entziehen.

Massaker von Wolhynien

Parallel muss man die Ereignisse ein paar Jahre zuvor im Auge behalten: Beim Massaker von Wolhynien (Ostgalizien) wurden zwischen 1942 und Kriegsende in Wolhynien 50.000–60.000 Polen, in der gesamten Ukraine wohl bis zu 300.000 Polen von ukrainischen Nationalisten ermordet. Die ukrainischen Nationalisten (UPA) wollten einen »ethnisch sauberen« ukrainischen Staat (wie übrigens die heutigen urkrainischen Nationalisten auch). Die Massaker wurden von den deutschen Besatzungstruppen zwar nicht angeordnet oder zur eigenen Sache erklärt, aber zumindest geduldet. Das tragische darüber hinaus: Stepan Bandera, einer der damaligen Verantwortlichen für das Massaker und UPA-Kämpfer kommt auch heute wieder zu neuen Ehren. Er ist eine der Gallionsfiguren der neuen Nazionalsozialisten in der Ukraine, die gerade beim Euromaidan eine große Rolle spielten.

 

Aktion Weichsel

Zurück nach Polen in die Zeitspanne nach dem 2. Weltkrieg: Vor diesem Hintergrund erklärt sich die extreme Ablehnung der Ukrainer. In Polen wurde ihnen misstraut. Die Ansiedelung erfolgte unter der Vorgabe, dass nirgends der ukrainische Bevölkerungsanteil über ein Minderheitenlevel hinaus steigen darf. In der Anfangszeit wurde eine Distanz zur ukrainischen Grenze von 30 km und zur Ostsee von 10 km vorgeschrieben. Schnell kam man auf die Idee die ehemals deutschen Siedlungsgebiete als Ziel für die Rückführung der »polnischen Ukrainer« zu wählen. In der Aktion Weichsel (Akcja Wisła) erfolgte die Ansiedelung unter großem Zwang und Auflagen und Beeinträchtigungen der persönlichen Freiheit. Auch kam es bei der ganzen Umsiedelungsaktion zu vielen Todesfällen. Die Organisation klappte oft nicht. Menschen irgendwo ausgeladen wurden, irrten ziellos durch unbekanntes, für sie fremdes Gebiet. Viele starben an Entkräftung.

Der Brutalität der Umsiedelung war in beiden Richtungen die gleiche: In Lemberg lernte ich eine Ukrainerin kennen, deren Eltern vor dem Krieg auf polnischem Territorium lebten. Ohne vorherige Ankündigung rollten eines Tages LKWs im Dorf an. Die Bewohner hatten gerade einmal 3 Stunden Zeit ein paar Wertgegenstände zusammenzusuchen (die ihnen dann aber bei Grenzübertritt abgenommen wurden). Dann wurden sie nach Liviv abtransportiert. Keiner von ihnen sah jemals sein Heimatdorf wieder.

Alles hängt zusammen …

Bei meinen Recherchen stieß ich dann auf einen Hinweis auf Pommern: Unter dem Titel »Vertriebene auf beiden Seiten« war von einer Katarzyna Woniak die Rede, die in Posen und Augsburg Geschichte studiert hat. Sie wollte wissen, warum ihr Großvater, der aus dem ukrainischen Lemberg stammt, in Pommern gelandet ist, ihre Familie in einem Haus lebt, das bis 1945 Deutschen gehörte … als Ortsname wurde Köslin genannt. Köslin (heute Koszalin) ist von Garrin (heute Charzyno), dem Heimatort meiner Mutter gerade einmal ca. 50 km entfernt. Plötzlich wurde mir bewußt, meine eigene Geschichte hat auf irgendeiner Weise etwas mit der Geschicht der Ukraine zu tun. Die Ukraine ist nicht weit im Osten, sondern hat ganz direkt etwas mit meinem eigenen Leben zu tun. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Menschen, vielleicht aus Lemberg, nach dem Krieg das Haus meiner Großeltern bezogen haben. Und genauso wie die Flucht meiner Familie, war die Ansiedelung dieser Ukrainer alles andere als »freiwillig«.

Es scheint alles zusammenzuhängen: Die Ereignisse des zweiten Weltkrieges, meine eigene Geschichte. Alles liegt viel näher beisammen, als ich immer geglaubt hatte.

By | 2017-05-25T13:31:39+00:00 19.05.2017|Categories: Ukrainie-2017|2 Comments

2 Comments

  1. Margarete Helminger 31. Mai 2017 at 15:39 - Reply

    Ja, da hast du sooo Recht: Alles hängt mit Allem zusammen! Und uns Kindern von Geflüchteten und Verjagten bleibten viele Fragen und eine Art ewiger Heimatlosigkeit … -sehnsucht … -suche …-verlorenheit …-verbindung??

  2. Kraller 27. Mai 2017 at 17:57 - Reply

    Gute Reise von den Krallern…

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Ukraine

Eine Stelle nahe Rachiw (das Dorf Dilowe) in der Ukraine mit den Koordinaten ♁47° 57′ 46″ N, 24° 11′ 14″ O wurde 1887, als die Region ein Teil der k.u.k.-Monarchie war, als geographisches Zentrum Europas berechnet. Wegen des Baues der Eisenbahnlinie Rachiw–Sighetu Marmației (ungarisch: Máramarossziget) wurden damals Vermessungsarbeiten durchgeführt. Im Verlauf dieser Arbeiten stellten die Ingenieure fest, den geographischen Mittelpunkt Europas eingemessen zu haben. Nach gründlicher Überprüfung bestätigten Wiener Wissenschaftler diese These. 1887 wurde ein 2 m hohes geodätisches Denkmal aus Beton errichtet, welches im Original bis heute erhalten ist. Die Stelle ist mit einer Gedenktafel mit lateinischer Inschrift gekennzeichnet:

Locus Perennis Dilicentissime cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confecta cum mensura gradum meridionalium et parallelorum quam Europeum. MDCCCLXXXVII.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Ernst Bloch:

»Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.

(…) Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.«