Auf dem Weg zum Hafen in den Rynok

//Auf dem Weg zum Hafen in den Rynok

Auf dem Weg zum Hafen in den Rynok

Mein Plan. Zuerst zum Rynok. Dann weiter in Richtung Meer. Durch einen Grüngürtel hinunter zum Frachthafen. Dann vom Frachthafen  weiter zum Personenhafen. Vielleicht zum Hotel auf der Hafen-Halbinsel. Dann über die Potemkinsche Treppe wieder zurück. Längerer Fußmarsch. Ich gehe los. Vorbei an Bürgerhäusern. Abenteuerliche Elektroinstallationen überall. Zerfall. Aber schön. Es ist heiß. Sehr heiß. Der Verkehr nimmt zu. Immer mehr Autos, aber auch immer mehr Fußgänger. Keine Fahrräder. Das fällt auf. Wenn Fahrräder in der Ukraine, dann moderne. Mountenbikes. Aber keine einfachen Gebrauchsräder für den täglichen Bedarf als Alternative zum Auto. Ich gehe weiter. Da ist der Eingang zum Rynok. Rynok das steht für Markt. Oft im Zentrum ein überdachtes rundes Gebäude. Oft sozialistischer Zweck-Betonbau. Umringt mit Marktständen und kleinen Ladengeschäften. Nein, keine Geschäfte in unserem Sinn. Eher überdachte Buden. Hier gibt es alles. Fleisch. Käse. Gemüse. Obst. Aber auch Kleidung. Elektrogeräte. Schuhe. Plastikschläuche. Gemüsesamen. Küchengeräte. Kosmetik. Zahnbürsten. Präservative. Blumen.

Rynok

Ich hatte in Kiew bereits Rynoks besucht. Es scheint sich gerade ein Strukturwandel zu vollziehen. Vom ursprünglichen Markt mit Marktständen hin zu Supermärkten. Manchmal gibt es beides. Supermarkt und Marktstände. Oft ist »Billa« als Marktkette vertreten.  In Kiew habe ich in Rynok-Bauten auch Supermärkte gesehen, die es in dieser Weise bei uns nicht geben könnte. In der Mitte des Supermarktes offene Holzcontainer mit Zucker, Mehl, Buchweizen, Keksen und anderen losen Lebensmitteln. Mit bereitgestellten Schaufeln befüllt man Plastiksäcke. Die werden dann an der Kasse gewogen. Ähnlich funktioniert das mit Milch, Spülmitteln, Speiseöl. Ich bin gespannt, ob es diese Form auch noch bei meinen nächsten Ukraine-Besuchen gibt. Oder ob dann die Einzelverpackung wie bei uns bereits gesiegt hat.

Hier in Odessa ist es noch ein konventioneller Markt. Basar. In Sowjetzeiten gab es nur Basare. Unzählige MarktverkäuferInnen und Verkäufer. Jeder preist seine Ware an. Es wird aber nicht wie im Süden gefeilscht und gehandelt. Die Waren haben alle Preisschilder. Einmal als Deutscher erkannt, wirst Du weitergereicht. Dazwischen auf den Gehwegen Kleinststände mit oft nur fünf oder zehn Gurken. Oder Pilze. Oder Marmelden. Oder Eingemachtes. Ich kaufe bei einem Stand Brombeersirup. Ein Enkel der »Babuschka« hilft mit. Er kann Englisch. Erzählt, dass die Barbuschka um vier Uhr am Morgen in den Wald geht um Beeren zu sammeln. Mittag wird eingekocht. Am nächsten Tag wird auf dem Rynok verkauft. Bis nichts mehr da ist. Dann geht es wieder von vorn los. Im Winter verkauft sie »Kompot« aus getrockneten Hagebutten. Kompot das ist so eine Art Fruchtsaft. Süß. Oft mit Gewürzen. Durst löschend.

Gleichzeitigkeit

Es ist wieder alles gleichzeitig vorhanden. Die ärmliche Bäurin mit 10 Gurken am Stand. Auf der anderen Seite blonde Ukrainerinnen mit Handy in der Hand. Preisschilder fotografierend. Es gibt ukrainische Webseiten, die die Preise von Marktständen vergleichen. Alles passiert zum gleichen Zeitpunkt. Auch das Zahnweiss-Studio zwischen den Marktständen. Nur ein paar Meter voneinander entfernt. Aber Welten liegen dazwischen. Jahrzehnte liegen dazwischen. Unterschiedliche Geschwindigkeiten. Da gibt es Nischen, da schreitet Zeit nicht voran, sondern tropft nur vor sich hin. Da die Bäuerin, deren Leben wahrscheinlich nicht anders verläuft als zu Sowjetzeiten vor 20 oder 30 Jahren. Und hier die blonde Ukrainerin, die genau so auch in Berlin, München oder sonstwo leben könnte. Die gleiche Schnelllebigkeit.

Ungleichzeitigkeit

Das ist das, was postsowjetische Gesellschaften prägt. Hier das erste Bemühen um gesellschaftliche Entwicklung. Dort der Oligarch mit nahezu grenzloser Macht und Gewinnstreben. Aber selbst dort gibt es Unterschiede. Nichts ist schwerer als Bewertung der Gegenwart. Ob Petro Poroschenko, Rinat Achmetow, Dmitrij Firtasch oder Wiktor Pintschuk. Oligarch ist nicht Oligarch. Pintschuk unterhält im Zentrum von Kiew ein Kunstmuseum und unterstützt viele Projekte im Zuge des Aufbaus einer Bürgergesellschaft. Sein Vermögen ist mit 1,3 Milliarden Dollar eher »klein«. Achmetows Vermögen wurde vor dem Donbas-Krieg auf 12,5 Milliaren Dollar geschätzt. Er ist als ehemaliger »König vom Donbas« heute »Kriegsverlierer«. Sein Vermögen ist angeblich 2017 auf nur noch 2,3 Milliarden Dollar geschrumpft. Das ist immer noch fast doppelt soviel wie das von Pintschuk.  Pintschuk erscheint im Vergleich fast sympatisch. Was wirklich dahintersteckt entzieht sich. Widersprüchlickeiten. Ungereimtheiten. Und natürlich die Frage, wie all diese Herren zu ihrem Vermögen kommen konnten.

Befremdlich bleibt, dass selbst der Präsident der Ukraine zu den Oligarchen zählt. Mit 867 Millionen zwar nicht der reichste. Aber immerhin. Petro Poroschenko, der »Schokokönig. Sein Firmenimperiums fußt auf dem Süßwarenkonzern »Roschen«. Mitbegründer der Partei der Regionen.  Wiktor Janukowytsch war als Regierungschef sein Vorgänger. Er war ursprünglich Mitstreiter vom mittlerweile geflohnen Janukowytsch. Als er während des Euromaidan 2014 merkte, daß sich Janukowytsch gegen die Hundertausende nicht durchsetzen wird könnten, wechselte er das Lager und schlug sich auf die Seite der Demonstranten. Wurde lautstarker Kritiker Janukowytschs. Nach dem Fall von Janukowytsch wurde Poroschenko zum Präsidenten gewählt. Vorgeschlagen für das Präsidentenamt wurde er von Vitali Klitschko. Im Wahlkampf versprach er, seine Firma »Roschen« zu verkaufen. Bis jetzt hat er das Versprechen nicht eingelöst. Im Gegenteil. Sein Vermögen wuchs seit dem noch einmal. Ganz sicher gibt andere Lesarten rund um die Biografie von Poroschenko. Ich jedenfalls traue mir nicht zu ein abschließendes Resumé über ihn zu ziehen. Verunsicherung bleibt. Bestimmt nicht nur bei mir.

Deutschland

Und wieder einmal mache ich mir Gedanken was die Ukraine eigentlich ist. Wie sie funktioniert. Woher die Menschen hier ihre Hoffnung ziehen. Ich denke nach. Was für mich in Deutschland selbstverständlich ist. Polizei, der man vertrauen kann. Jeder zahlt die Steuern, die er zahlen muss. Die meisten können auch die Steuern zahlen, die sie zahlen müssen. Natürlich gibt es da bei uns auch Ausnahmen. Und auch Fragwürdigkeiten. Aber verglichen mit der Ukraine. Lächerlichkeiten.

Wenn ich krank bin, gehe ich zu meinem Hausarzt. Oder ins Krankenhaus. Muss niemanden bestechen um die Leistung zu erhalten, die mir zusteht.Natürlich gibt es auch bei uns sehr Wohlhabende. Manager mit Rieseneinkommen. Ich denke mir allerdings. Warum nicht. Deswegen habe ich trotzdem prinzipiell gleiche Rechte. Ich denke nach. Über den Straßenbau bei mir Zuhause. Die B 304. Ein paar Bodenwellen und schon ist eine Belagerneuerung fällig. Das Geld ist selbstverständlich dafür vorhanden. Und wenn man schon mal dabei ist gleich für 10 km.

Das Problem ist, wir wissen gar nicht wie gut es uns geht. Eines weiß ich aber ganz sicher. Wenn wir mit den Problemen einer Ukraine konfrontiert wären. Unsere Gesellschaft wäre längst zusammengebrochen. Auseinandergebrochen. Soviel Unsicherheiten könnten wir nicht aushalten.

In der Ukraine stellt sich eine andere Frage. Überleben oder nicht.

By | 2017-11-01T20:17:10+00:00 30.05.2017|Categories: Ukrainie-2017|0 Comments

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Ukraine

Eine Stelle nahe Rachiw (das Dorf Dilowe) in der Ukraine mit den Koordinaten ♁47° 57′ 46″ N, 24° 11′ 14″ O wurde 1887, als die Region ein Teil der k.u.k.-Monarchie war, als geographisches Zentrum Europas berechnet. Wegen des Baues der Eisenbahnlinie Rachiw–Sighetu Marmației (ungarisch: Máramarossziget) wurden damals Vermessungsarbeiten durchgeführt. Im Verlauf dieser Arbeiten stellten die Ingenieure fest, den geographischen Mittelpunkt Europas eingemessen zu haben. Nach gründlicher Überprüfung bestätigten Wiener Wissenschaftler diese These. 1887 wurde ein 2 m hohes geodätisches Denkmal aus Beton errichtet, welches im Original bis heute erhalten ist. Die Stelle ist mit einer Gedenktafel mit lateinischer Inschrift gekennzeichnet:

Locus Perennis Dilicentissime cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confecta cum mensura gradum meridionalium et parallelorum quam Europeum. MDCCCLXXXVII.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Ernst Bloch:

»Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.

(…) Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.«