FREEDOM IS OUR RELIGION!

//FREEDOM IS OUR RELIGION!

FREEDOM IS OUR RELIGION!

Bereits zu Lebzeiten von Jesu Christi soll der Apostel Andreas auf einem der Kiewer Hügel ein Kreuz aufgestellt haben. Die offizielle Stadtgründung soll im Jahre 482 erfolgt sein. Deshalb feiert Kiew im Jahr 2017 sein 1535 jähriges Gründungsfest. Und genau in dieses Fest bin ich bei meinem Spaziergang zum Maydan Nezaleznoti geraten, also der Platz, wo 2004 die orangene Revolution und 2014 der Euromaidan stattfanden.

Um sich ein wenig besser vorzustellen, was ich hier beschreibe, muss ich wohl ein wenig die umgebende Architektur erläutern. Zu Sowjetzeiten ist der Kern von Kiew durch martialische Machtbauten bestimmt. Egal ob es sich um das Hotel Ukraina handelt oder diverse Regierungungsbauten – hier kann man studieren, wie totalitäre Architektur funktioniert.
Du, das Individuum bist absolut nichts. Wir, die Macht sind gottgleich groß. Monotone Fassaden, fast ohne Gliederung. Sich ewig repetierende Muster. Höchste Höhen. Eingangsportale, wie für Riesen gemacht. Hindurch gehen aber kleine und kleinste Einzelmenschen. Wenn Du hindurch gehst, bist Du hinterher kleiner wie zuvor.

Interessanterweise dann klassizistische Garnierungen. In Stein gemeißelte Herosierungen. Säulen. Kapitelle. Gold als Kontrastfarbe zu grau, dunkelblau und manchmal lila. Der Staat, die Partei sind nicht Stellvertreter Gottes. Sie sind Gott. Denn Gott ist tot.
Das ist Vergangenheit in der Ukraine. Neue, kommerzielle Bauten bedienen sich aber der gleichen Architektursprache. Wieder Säulen, Rondelle, Kuppeln. Wieder martialische Portale. Verwebung von totalitären Machtinsignien, Markenkommunikation und westlichem Kommerz. Be i uns Kommerz mit menschlichen Gesicht. Dort Kommerz mit dem Erscheinungsbild der totalitären Macht. Dort sind das die Menschen gewohnt. Dort knüpft man am Gewohnten an um die gleichen Ziele zu erreichen wie bei uns. Andere historische Prägungen. Andere Mittel.

Das Zentrum von Kiew das sind mächtige Straßen. Mit noch mächtigeren Gebäuden. Hier fanden Aufmärsche statt. Jetzt findet hier ein ausgelassenes Stadtfest statt. Budenzauber. Musik aus der Konserve. Musik life. Hier eine Siegerehrung irgendeines Wettbewerbs. Ein professioneller Entertainer auf der Bühne. Dahinter vodafone-Banner. Allerorten ukrainische Fahnen. Spaß, Fun, Attraktionen. Lebende Figuren aus so ziemlich allen aktuellen Science-Fiction Blogbustern. Kinder. Jugendliche. Hüpfburgen. Eis. Dazwischen Prospektverteilung für Thai-Massage. Junge Mütter. Ehepaare mit und ohne Kinder. Großeltern. Dann eine tiefschwarze Mercedes-Limousine. Dunkel getönte Scheiben. Man sieht nicht, wer darin sitzt. Keine Nummernschilder. Das sind wohl die Gleichen unter den Gleichen.

Mir fallen Aussagen von Jurij Andruchowytsch zur ukrainischen Freiheit ein. Kann daran nicht andocken. Gehe weiter. Ein Einbeiniger auf Krücken. Übergibt mir ein gelb-blau geflochtens Freundschaftsband. Er kann etwas Englisch. Er verteilt diese Bänder als Dankeschön für seine Kameraden im Donezk. Wegen der Einnahmen hier für Medikamente und medizinische Versorgung. Er hilft jetzt hier, weil er im Donezk nicht mehr helfen kann. Er deutet auf sein fehlendes Bein. Da ist sie wieder, die Gleichzeitigkeit in der Ungleichzeitigkeit. Mitten im Fun.

Ich gehe weiter. Zum Unabhängigkeitsdenkmal der Ukraine. Vorher Bildtafeln über die Geschehnisse beim Euromaidan 2014. An den Säulen überall Fotos und Geschichten von Menschen, die hier gestorben sind. Ein junges Pärchen. Habe die beiden vor paar Minuten in den Wasserspielen unterhalb des Denkumals tanzen gesehen. Sie sind patschnass. Sie gehen zu einem Foto auf einer der Säulen. Legen eine gelbe Nelke ab und verschwinden wieder.

Ich gehe weiter. Den Berg hinauf. Dort sind kleine Schreine der 100 aufgebaut. Mehr als 100 Menschen starben in den Tagen vom 18. bis 20. Februar 2014. Immer wieder kommen Menschen, lesen die Tafeln. Sind still. Legen manchmal Blumen dazu.

By | 2017-06-09T18:52:55+00:00 27.05.2017|Categories: Ukrainie-2017|1 Comment

One Comment

  1. Margarete Helminger 31. Mai 2017 at 15:33 - Reply

    So ein starker Text, es ist unglaublich, was man in ein paar Tagen erleben kann…grandios beschrieben, immer mehr spüre ich Zusammenhänge auf…was ist Europa? Danke für dieses Tagebuch…und für die Rede von Jurij Andruchowytsch!
    Hoffe, Du wirst nicht wieder verhaftet, bevor Du Deinen nächsten Eintrag hier schreiben kannst! Viele liebe Grüße

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Ukraine

Eine Stelle nahe Rachiw (das Dorf Dilowe) in der Ukraine mit den Koordinaten ♁47° 57′ 46″ N, 24° 11′ 14″ O wurde 1887, als die Region ein Teil der k.u.k.-Monarchie war, als geographisches Zentrum Europas berechnet. Wegen des Baues der Eisenbahnlinie Rachiw–Sighetu Marmației (ungarisch: Máramarossziget) wurden damals Vermessungsarbeiten durchgeführt. Im Verlauf dieser Arbeiten stellten die Ingenieure fest, den geographischen Mittelpunkt Europas eingemessen zu haben. Nach gründlicher Überprüfung bestätigten Wiener Wissenschaftler diese These. 1887 wurde ein 2 m hohes geodätisches Denkmal aus Beton errichtet, welches im Original bis heute erhalten ist. Die Stelle ist mit einer Gedenktafel mit lateinischer Inschrift gekennzeichnet:

Locus Perennis Dilicentissime cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confecta cum mensura gradum meridionalium et parallelorum quam Europeum. MDCCCLXXXVII.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Ernst Bloch:

»Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.

(…) Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.«