Zum Zug nach Odessa

//Zum Zug nach Odessa

Zum Zug nach Odessa

Auschecken im Hostel. Zwei Rucksäcke. Zu Fuß zur Metro, Station Nr. 316 – Klovska. Fahrkartenkauf – keine Ahnung. Fahrkartenschalter mit Menschen dahinter. Die Dame hinter dem Guckfenster versteht kein Wort Englisch. Wir beginnen uns mit Händen und Füßen zu verständigen. Dann merkt sie, ich komme aus Deutschland und legt los. „Wolln se zum Bahnhof junger Mann, wa!“. Ihr Mann und sie haben in der roten Armee gedient. Waren in Berlin stationiert. Sie gehörte zum Verbindungsstab. Sie erklärt mir in bestem Deutsch, ich müsse mir nur eine Wertmünze kaufen und beim Metroeingang einwerfen. Dann kann ich solange fahren, wie ich will und auch umsteigen. „Solange se unter der Oberfläche bleiben“. „Wenn se aber die Metro verlassen, müssen se ne neue Münze kofen“. Vier Griwna kostet eine Wertmünze. Das sind umgerechnet in etwa 14ct. Für unsere Verhältnisse ein lächerlicher Betrag. Jede Station ist mit einer Nummer versehen. Dadurch fällt die Orientierung sehr leicht. In München ist es komplizierter.

In die Tiefe

Also hinunter in die Metro. Direkt hinter dem Drehkreuz beginnt die Rolltreppe nach unten. Aber da stockt mir der Atem. Eine derart lange und steile Rolltreppe habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Es erfordert Mut die Treppe zu betreten. Die Treppe läuft rasant schnell. Es dauert viele lange Minuten bis ich unten bin. Später erfahre ich dass die tiefste Metro-Station „Arsenalna“ gute hundert Meter unter der Erdoberfläche liegt und damit gehört die Kiewer Metro zu den tiefsten der ganzen Welt. Bei mir waren es „nur“ 65 Meter, das hat aber auch schon gereicht. Wohlgemerkt nicht Länge der Rolltreppe sondern Tiefe unter dem Erdboden.

Architektonisch erinnert die Kiewer Metro sehr stark an die Bilder, die ich von der Moskauer Metro im Kopf habe. Runde Gewölbe mit Fliesen verkleidet. Neonröhren. Heroische Szenen als Mosaik in Gold ausgeführt. Alles gar nicht leicht. Sowjetisch-bedrohlich. Dann kommt der Zug. Komplett überfüllt. Ich will auf den nächsten warten. Die Menschenmasse hinter mir bewegt sich aber trotzdem in Richtung Metro. Mir bleibt keine andere Wahl. Finde mich in der Metro wieder zwischen dem Busen einer älteren Dame und einem Bodybuilder-Typen hinter mir. Umfallen kann ich jetzt nicht mehr. Irgendwo neben mir fragt jemand in Englisch: „First time in Kiyv? It’s normal for Metro.“ Irgendwann komme ich bei Station Nummer 117 – Volkzana an. Dann Engpass beim Zustieg zur Rolltreppe. Du hast Zeit, Du hast Zeit. Es geht aufwärts. Genauso beklemmend.

Am Bahnhof

Oben angelangt stehe ich vor dem Bahnhof. Gehe durch die riesenhaften Eingangstore. Jugendstil-Architektur. So ein Gebäude gibt es in ganz Wien nicht. Riesige Anzeigentafeln. Ein riesiger Kronleuchter sorgt nur für gedämpftes Licht. Rolltreppen nach oben. Seiteneingänge. Menschen, Menschen, Menschen. Wieder einmal –  alles riesige Ausmaße. Wie den Zug nach Odessa finden. Züge gehen nach Budapest, Warschau, Moskau, Batumi, Tiflis, nach Liviv, Ivano Frankisk, Ternopil, aber nicht nach Odessa.

Ein Infoschalter. Ich übergebe die Fahrkarte. Man erklärt mir, dass Infos zum Gleis erst ungefähr eine halbe Stunde vor Abfahrt vorliegen. Auf der großen Tafel wird dann die Track No. angezeigt. Ich such auf der Anzeigentafel meine Zugnummer. Es werden über hundert Züge angezeigt. Da ist die Nummer nach Odessa. Jetzt verstehe ich das Prinzip. Das ist wie am Flughafen mit der Gatenummer. Nicht wie in Deutschland, wo die Gleisnummer schon vorher bekannt ist.

Warten. Jetzt wird die Track-No angezeigt.  Gleis 3. Ich begebe mich zur Rolltreppe. Wieder sehr lang und hoch und schnell laufend. Rolltreppen sind scheinbar in der Ukraine erfunden worden. Man kommt in einen weiteren Wartebereich. Unter Gleis 3 wird noch ein Zug nach Ternopil angezeigt. Warten. Jetzt Anzeige Zug nach Одеса angezeigt. Ich gehe zum Gleis. Dort steht bereits ein Zug. Vor jeder Einstiegstür eine Schaffnerin. Ich zeige der ersten meine Fahrkarte. Bin am richtigen Wagon. Sie sagt mir in welche Richtung ich gehen soll um das Abteil zu finden. Nummer 18. Zwei Sitzliegen. Kissen und Schlafzeug sind vorbereitet. Mineralwasser steht auf dem Tisch.  Ich lasse mich entspannt nieder.

 

 

 

By | 2017-06-09T18:56:17+00:00 28.05.2017|Categories: Ukrainie-2017|2 Comments

2 Comments

  1. Kraller 4. Juni 2017 at 0:41 - Reply

    Hallo Michl, ich glaub wir müssen das ganze später mal bei einem Pils genauer besprechen …Gute Reise weiterhin…

  2. Margarete Helminger 31. Mai 2017 at 23:42 - Reply

    Waaaahnsinnig gut geschrieben, könnt stundenlang weiterlesen, die Nachrichten aus der nahen Ferne!!!

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Ukraine

Eine Stelle nahe Rachiw (das Dorf Dilowe) in der Ukraine mit den Koordinaten ♁47° 57′ 46″ N, 24° 11′ 14″ O wurde 1887, als die Region ein Teil der k.u.k.-Monarchie war, als geographisches Zentrum Europas berechnet. Wegen des Baues der Eisenbahnlinie Rachiw–Sighetu Marmației (ungarisch: Máramarossziget) wurden damals Vermessungsarbeiten durchgeführt. Im Verlauf dieser Arbeiten stellten die Ingenieure fest, den geographischen Mittelpunkt Europas eingemessen zu haben. Nach gründlicher Überprüfung bestätigten Wiener Wissenschaftler diese These. 1887 wurde ein 2 m hohes geodätisches Denkmal aus Beton errichtet, welches im Original bis heute erhalten ist. Die Stelle ist mit einer Gedenktafel mit lateinischer Inschrift gekennzeichnet:

Locus Perennis Dilicentissime cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confecta cum mensura gradum meridionalium et parallelorum quam Europeum. MDCCCLXXXVII.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Ernst Bloch:

»Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.

(…) Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.«