Warten auf die Abfahrt des Nachtzuges von Kiew nach Odessa. Zug-Nummer 105. Wagon 07. Abteil 18. Die Schiebetür geht auf. Ein Mann zwischen 30 und 40 tritt ein. Er begrüßt mich auf ukrainisch. Ich gebe zu verstehen, dass ich ukrainisch nicht verstehe. Er sagt »Hello, my English is poor«. Ich erwidere: »My English is poor too!«. Er sagt: »Then we will understand each other!«. Er sagt er heiße Maxim und komme aus Kiew. Er verstaut seinen Business-Trolley. Er hängt einen in Plastik gehüllten Business-Anzug an einem Kleiderhaken auf.
Er fragt, was ich in der Ukraine schon gesehen habe. Ich sage Liviv, Ivano Frankisk und Kiyiv. Er fragt, warum mich die Ukraine interessiert. Ich erzähle ihm in mehreren Anläufen die Geschichte der Herkunft meiner Mutter und wie ihre Vertreibung mit der Vertreibung von Ukrainern nach Polen zusammenhängt. (Blogartikel »Die Flucht meiner Mutter und die Verbindung zur Ukraine«) Er weiß von dem Massaker in Wolhynien. Er sagt, es sei eine Schande dass einer der damaligen faschistischen Schlächter gegen die Polen, Stepan Bandera, im Jahr 2010 als Held der Ukraine geehrt wurde. Man wollte Polen damit provozieren, denn die Verbindung zu Hitler wurde dabei komplett vergessen. Er werde depressiv, wenn er Fernsehbilder sehe, wo rechtsradikale Demonstranten heute das Bild Banderas als Idol herumtragen.
Maxim erzählt, bei der orangenen Revolution sei er und auch seine Eltern mitmaschiert. Danach gab es Aufbruchstimmung. Beim Euromaidan war er nicht dabei. Nach dem Euromaidan war die Stimmung auch nicht so hoffnungsvoll wie 2004. Der Blutzoll war zu groß für echte Heiterkeit. Heute sind die Menschen wieder eher depressiv. Es gibt keine Aufbruchstimmung. Ideen werden im politischen Klein-Klein-Hick-Hack zerfasert und zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Koruption überall. Wie eh und je. Verbesserungen nur im Detail. Permanent Gegenwehr gegen die russische Aggression. Da fällt es manchmal selbst libaral denkenden nicht leicht auch nach rechts abzudriften. Und die Risse ziehen sich durch viele Familien. Er hat einen Großvater in Russland. Der spricht nicht mehr mit seiner ukrainischen Verwandschaft. Weil sie zu Russenhassern geworden wären. Aber es geht vorwärts. Langsam. Sehr langsam.
Wir sprechen über die Ukraine als Pufferstaat. Zwischen West und Ost. Der Westen hat Angst die Ukraine einzugliedern. Dann gäbe es eine direkte Grenze zu Russland. Das birgt Konflikte. Da hält man die Ukraine lieber auf Abstand. Maxim sagt zum Zeitpunkt des Eintritts Polens in die EU war das Bruttosozialprodukt beider Länder in etwa gleich. Heute ist das Polens fünf mal höher als das der Ukraine.
Maxim fragt mich, wo ich in meiner Zeit in der Ukraine noch hin will. Ich sage, nach Odessa fahre ich wieder zurück nach Kiew. Von Kiew dann nach Tschernobyl. Er sagt, an das Unglück könne er sich nicht erinnern. Er war zu jung. Außerdem erfuhr man damals auch nicht soviel wie der Westen. Aber sein Vater war Arzt und wurde zur Versorgung der Kranken nach Tschernobyl geschickt. Später erzählte er, er habe in seinem ganzen Leben als Arzt noch nie mehr soviele Totenscheine ausgestellt wie damals. Todesursache war immer Sturz aus großer Höhe. Das war so angeordnet.
Maxim ist unterwegs zu einem Pharmakongress nach Odessa. Er sagt Odessa sei eine der schönsten Städte der Ukraine. Er habe Freunde in Odessa. War schon zweimal in Odessa. Er war auch schon in Istanbul und in Italien. Auch auf Pharmakongressen. Seine Firma vertreibe Generika von Psychopharmaka. Diese werden dann in Apotheken vertrieben. In der Ukraine ist ein ausgebildeter Apother nicht so selbstverständlich wie in Deutschland. Das machen meistens Anlernkräfte. Deshalb müssen Pharmahersteller oft auch Anlernkräfte schulen.
Mittlerweile ist es bald 03.30 Uhr. Wir schlafen noch ein wenig. Um 05.30 Uhr kommt die Schaffnerin herein. Bringt einen heißen Tee. Teilt mit, dass wir in ungefähr einer Stunde in Odessa sind. Wir können noch mehr Tee holen. Der Tee kostet nichts. Dann fährt der Zug in Odessa ein. Wir verabschieden uns. Tauschen Visitenkarten aus. Jeder geht seiner Wege.
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