Ich stehe vor dem Bahnhof. Ein wenig müde, aber hellwach. Es ist halb sieben. Ich atme durch. Die unverbrauchte Luft einer erwachenden Stadt vor einem heißen Tag. Wasser-Tankwagen spritzen den Rest des Vortages von der Straße. Die Pflastersteine glänzen vom kühlenden Naß. Die Luft ist von Feuchtigkeit durchdrungen. Reinheit liegt in der Luft. Es tut gut zu atmen. Ich komme mir vor wie Goethe als er Rom erreichte. Die gleiche erfüllte Sehnsucht. Gott sei Dank habe ich sie. Sehnsucht nach mehr. Sehnsucht nach Ferne. Sehnsucht nach neuen Geschichten. Unendliche Leichtigkeit. Nur vereinzelt Menschen. Eine Sandwich-Bar. Ich gehe hinein. Bestelle einen Cappucino. Erhalte einen doppelten Espresso mit Salzgurke. Die Milch ist noch nicht geliefert. Deshalb. Ukraine, nicht Italien. Leiser. Stiller. Nicht so selbstbewusst. Brutaler. Schüler neben mir. Die gleichen wichtigen Botschaften via Handy wie bei uns. Da ist kein Unterschied. Menschen strömen aus dem Bahnhofsportal. Zur Arbeit. Zu Besuchen. Zu Erledigungen. Manchem sieht man seine Last an. Andere sorglos. Andere ausgelassen. Ein normaler, unspektakulärer Morgen in Odessa. Für mich nicht. Ich bin angekommen.
Ich gehe zu den Taxifahrern gegenüber. Keiner kann Englisch. Keiner versteht, wo ich hinwill. Ich packe mein Handy aus. Starte das Navigationssystem. Gebe die Adresse meiner Unterkunft ein. Setze mich in ein Taxi. Sage dem Taxifahrer wo er fahren soll. Er versteht. Ich lege mein Handy auf das Amaturenbrett. Er folgt der Route. Wir kommen an. Aus Google-Streetview kenne ich das Gebäude. Ich zahle den Taxifahrer. Bin viel zu früh bei der Unterkunft. Einchecken erst ab zwölf. Deponiere meinen Rucksack. Mache mich auf den Weg.
Vorbei an wundschönen alten Bürgerhäusern. Fassaden bröckeln. Stuck. Erker. Simse. Skulpturale Verzierungen. Oft ist die einstige Herrlichkeit nur noch ein Zitat aus der Vergangenheit. Scheitert am Jetzt. Oder scheiterte bereits in der Vergangenheit. Wer weiß es. Viel wird auch renoviert. Aber immer nur das was benötigt wird. Nicht verwendete Bereiche bleiben von der Renovierung ausgeschlossen. Das zieht sich oft kreuz und quer durch ein einzelnes Haus.
Ich durchquere Stadtparks. Alles noch fast menschenleer. Atmosphäre eines Kurbades. Es fehlt nur noch das Promenadenkonzert. Weiter durch immer prächtiger werdende Straßenfluchten. Aber nie ganz prächtig. Immer ein Teil Morbidität, Verfall ist dabei. Oder anders. Die Prachtbauten fangen an aus einem jahrhundertelangen Dornröschenschlaf zu erwachen. Sind aber noch nicht wirklich wach. Wie die Stadt an diesem Morgen. Die Sonne wird stechender. Ich gehe weiter in Richtung Meer.
Potemkinsche Treppe. Vor kurzem renoviert. Neuer Granit. Blick auf das schwarze Meer. Hotelbau im Personenhafen. Erschlägt alles. Brutale Funktionalität. Kein noch so kleines Quäntchen Sentimentalität. Wer war dieser Potemkin? Zaristischer Adeliger. Potemkinsche Dörfer. Nur Fassade. Für die Zarin Katharina. In Wirklichkeit begnadeter Organisator. Hat mehr erreicht als als andere Adelige. Deshalb üble Nachrede. Potemkinsche Dörfer. Fassadendörfer. In Wirklichkeit Neid. Die Treppe. Trugbild. Unten breiter als oben. Daher Verstärkung der Perspektive. Schauplatz Schlüsselszene »Panzerkreuzer Potemkin«. Meilenstein der Filmgeschichte. Sowjetische Heroisierung der Auflehnung der Massen gegen die zaristische Elite. Jetzt bin ich hier. Den Film habe ich Zuhause gesehen.
Komme her mit einer Vorstellung vom Ort. Aber der wirkliche Ort kann nicht standhalten. Ja, die Treppe ist genauso groß wie im Film. Es ist alles so wie im Film. Aber doch nicht. Das was anders ist, ist tiefgründiger. Die Treppe ist nicht aufgeladen mit Vergangenheit. Sie ist kein Symbol herrschender Macht, sondern touristische Attraktion. Ist sauberer, neuer Granit. Das für was sie stehen könnte ist Vergangenheit. Das Zarenreich ist gescheitert. Der Sozialismus ist gescheitert. Panzerkreuzer Potemkin ist untergegangen im Lauf der Geschichte. Die Bonzen von damals haben immer noch Macht. Nicht offensichtlich. Aber strukturell. Das spürt man. Überall. An die Stelle des sozialistischen Machtapparates ist nichts Besseres getreten. Vielleicht eine Option zum Besseren. Die Grundstrukturen sind die geblieben.
Die Potemkinsche Treppe. Früher funktionale Verbindung zwischen Hafen und Stadt. Heute herausgelöst aus dem Kontext. Unten Industriehafen. Oben altes Odessa. Schon lange keine Verbindung mehr. Dazwischen die Treppe. Aber sie verbindet nicht. Sie ist ein Dazwischen. Fast wie ein Fremdkörper. Ein Puffer. Wie die Ukraine. Zwischen Ost und West. Die Treppe. Wie ein Puffer zwischen Gestern und Heute. Man kann sie herab- und hinaufsteigen. Aber man kommt nirgends an.
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