Odessa downstairs.

//Odessa downstairs.

Odessa downstairs.

Odessa-Stadt ist oben. Odessa-Hafen ist unten am Schwarzen Meer. Zwei Welten. Oben Betriebsamkeit einer lebendigen Stadt. Oben der Rynok. Unten das Existenzielle. Erinnerung an eine sowjetische Vergangenheit. Grau. Braun. Beige.

Der Weg führt vorbei an Straßen, die zwar schon die Nähe von Hafen erahnen lassen, aber sie gehöhren noch eindeutig zur Stadt. Vorbei an Straßenschänken. Überall Backstein-Wohnblocks. Keine Hochhäuser, aber mehr als drei Stockwerke. Zunehmende Morbidität. Der Glanz Odessas, der sich im Zentrum mit weiß getünchten klassizistischen Fassaden zeigt, ist hier nicht einmal mehr zu erahnen. Die Sonne brennt unbarmherzig heiß und entlarvend hell. Starke Kontraste, nicht nur auf meinen Fotos. So starke Kontraste, dass beim Darüberschauen das Weiß der Lichter und das Schwarz der Schatten den dazwischen liegenden Bereich der Durchzeichnung, der Erkennbarkeit aufzufressen drohen. Der Bereich der Definiertheit scheint sich sowohl im Weissen wie im Schwarzen zu verlieren.  Es verschwindet. Wie hier – im Grau einer Kackophonie allgemeiner Morbidität. Einem Grau als Konglomerat aus Vergangenheit und unerfüllter Zukunft.

Es geht steil abwärts – durch einen parkähnlichen Grüngürtel, der die Stadt vom Hafen trennen will. Ein kurzer Augenblick der Stille. Spaziergänger. Vogelgezitscher. Unten angekommen. Kein sichtbarer Hafen. Industriehallen.  Aber der Geruch von von harter Arbeit. Man riecht ihn nicht wirklich, aber man denkt ihn. Ölverschmiert. Schwielen an den Händen. Ein wenig abseitig.

Dieses Arreal verlässt man so schnell wie möglich nach getaner Arbeit um in mit Leben erfüllte Arreale zu gelangen. Hier ist es laut und roh. Ich fühle mich plötzlich extrem verletzbar in dieser Umgebung. Wie ein Regenwurm, der droht in einem übermächtigen industriellen Räderwerk zerquetscht zu werden. Stark befahrene Straße in beiden Richtungen. Bushaltestellen. Überfüllte Trolley-Busse. Als Fußgänger kaum überquerbar. Aggressiv. Laut. Schnell. Frontal. Dort eine Reperaturwerkstatt für Motorräder. Dort ein nahezu komplett zusammengefallenes Industriegebäude. Dort amerikanische Nobelkarossen zu Verkauf. Dort sichtlich abgekämpfte Arbeiter nach Ende ihrer Schicht wartend auf den nächsten Trolley-Bus. Ich kann sie nicht fotografieren. Ich komme mir schon jetzt vor wie ein Fremdkörper.

Ich folge meinem Navi in Richtung Eingang Frachthafen. Der Eingang. Nicht spektakulär. Nach ein paar Gleisen, eine Straße die weiterführt. Eine Schranke. Unzählige Hafenarbeiter kommen und gehen. Immer durch eine Pforte. Ich folge ihnen. Bin plötzlich allein. Rufe. Kein Wachtposten. Ich rufe nochmals. Niemand antwortet. Ein Hafenarbeiter nähert sich hinter mir. Grüßt und geht einfach weiter. Ich folge ihm. Bin auf dem Frachthafengeläde. Großes Tanklager. Ein Frachtzug ist gerade angekommen. Ich will dort hin, wo die Frachtschiffe liegen. Gehe weiter. Ein Hafenarbeiter scheint mir zu winken. Kann seine Geste nicht interpretieren. Gehe weiter an einem Zug mit offenen Frachtwagons, abgedeckt mit Armee-Tarnnetzen. Sehe in weiter Ferne Ladekräne und ein Frachtschiff. Lege einen neuen Film ein. Fotografiere. Gehe weiter. Ich höre eine Sirene. Plötzlich rast hinter einem Lagergebäude ein Jeep mit Blaulicht hervor. Hält auf mich zu. Zwei Soldaten springen heraus. Einer legt sein Gewehr auf mich an. Der zweite kommt laut schimpfend und gestikulierend auf mich zu. Entreißt mir meinen Fotoapparat. Der zweite kommt auch näher und nötigt mich mit seinem Gewehrkolben in Richtung Jeep. Keine Verständigung. Ich bin seltsam ruhig. Merkwürdigerweise kaum aufgeregt. Wir fahren los. Schotter fliegt hinter uns. Mit Blaulicht und Sirene. Fahren zwischen mir unendlich lang vorkommenden Lagerhäusern entlang. Biegen irendwann rechts ab und stehen vor einem Gebäude, oder vielleicht eher eine Baracke mit Staatswappen blau-gelb. Ich werde hineingeführt. Lautstark erläutern sie wohl einem Vorgesetzten was vorgefallen ist. Dieser macht eine Handbewegung und die zwei verlassen wieder die Baracke, setzten sich in ihren Jeep und brausen davon.

Der Vorgesetzte ist ganz ruhig und unaufgeregt. Fragt mich in bestem Englisch , ob ich weiß wo ich bin. Ich sage ihm daß ich weiß im Frachthafen zu sein. Er holt weiter aus. Ob ich wisse, dass sich die Ukraine im Krieg mit Russland = Seperatisten befände. Er erklärt, dass dieser Hafen kein ziviler Frachthafen mehr sei, sondern der zentrale Hafen an dem Frachtgüter für die ukrainische Armee umgeschlagen würden. Er erklärt, man muss jetzt sehr vorsichtig sein. Es gibt russische Spionage hier. Die schadet den ukrainischen Truppen. Er fragt, wer ich bin. Was ich in der Ukraine mache. Ich erläutere ihm mein Hiersein so gut es geht. Er nimmt den Telefonhörer zur Hand und redet mit seinem Gegenüber sichtlich beschwichtigend. Ich verstehe aber natürlich nichts wirklich. Er legt den Hörer auf und redet von »missunderstanding«, nimmt meinen Fotoapparat und will die Fotos sehen, die ich gemacht habe. Ich erkläre ihm, es handle sich um eine Analogkamera mit Schwarzweiss-Film, die Fotos könne ich ihm deswegen nicht zeigen. Er versteht zuerst nicht, sagt dann aber »old camera«. Er sagt, ich müsse ihm den Film geben. Er fragt nicht nach meinem Rucksackinhalt. Ich spule den Film zurück und übergebe ihm den. Der Film, den ich auf dem Frachthafengeläde erst eingelgt hatte. Er bedeutet mich aufzustehen. Wir gehen zu seinem Dienstwagen. Wir steigen ein. Er fährt einen anderen Weg zurück. Zu einer Kantine. Er lädt mich zu einem Kaffee ein und erklärt mir, dass ich im Personenhafen zu den Schiffen gehen könne. Er erklärt mir den Weg zum Personenhafen. Wir stegen wieder ins Auto. Er fährt mich zurück zur Pforte.

Ich stehe wieder vor der viel befahrenen Straße. Ich bin verwirrt. Mir wird jetzt erst bewußt, was gerade passiert ist. Der gleiche Vorfall 15 Jahre früher hätte unweigerlich zu einer Verhaftung mit unklarem Ausgang geführt. Die Sonne scheint noch heißer zu brennen als zuvor. Ich bewege mich weiter in Richtung Frachthafen. Entlang an einer Bahntrasse, die von Gehsteig und Straße durch eine Betonmauer abgetrennt ist. Kilometerlang. Der Weg scheint kein Ende zu nehmen. Sengende Hitze. Ich bekomme Durst. Endlich sehe ich eine Auffahrt zum Personenhafen. Eine Schranke. Ich frage den Wachmann, ob man hier gehen dürfe. Er sagt, hier ist es zu gefährlich. Zu Fuß müsse man noch ein Stück weitergehen. Ich gehe weiter. Sehe im letzten Augenblick, dass sich vor mir mitten im Gehsteig ein metertiefes Loch befindet. Ich hüpfe. Überwinde das Loch. Aber mit ein wenig zuwenig Schwung. Gerate ins Stolpern. Versuche den unweigerlich folgenden Fall abzufangen. Mache einen Krätschschritt. Dann noch einen weiteren. Und noch einen. Versuche meine Kamera zu schützen. Dann folgt das Unvermeidliche. Ich pralle mit voller Wucht mit meinem linken Knie auf dem Teerboden auf. Gehe jetzt komplett zu Boden. Schmerzen. Ich versuche mich von meinem Rucksack zu befreien. Ich versuche mich aufzurichten. Es gelingt mir nicht. Ich drehe mich und hangle mich an einem weiß getünchten Betonboller nach oben. Ich stehe. Mir ist schwindlig. Ich versuche herauszufinden, wo ich verletzt bin. Blute am Knie, blute am Ellbogen. Harre einen Moment aus. Greife nach meiner Kamera. Überprüfe, ob sie intakt ist. Sichtlich nichts defekt. Mache ein Foto von meinen Blutspuren am Betonboller. Hebe meinen Rucksack an. Schulter ihn. Es schmerzt. Spüre, das mein Knie bald anschwellen wird. Setze mich in Bewegung. Langsam gehe ich in Richtung Potemkinsche Treppe. Auf der anderen Straßenseite die Treppe. Ich sehe hinauf. Dort komme ich in meinem Zustand unmöglich hinauf. Ich gehe weiter. Zur Funicular. Eine Mini-Zahnradbahn, die Parallel zur Treppe verläuft. Es scheinen Stunden zu vergehen, bis die nächste Bahn kommt. Oben angekommen gehe ich in Richtung einer Apotheke, die im Schaufenster ein Riesen-Schild hängen hat »We speak English«. Niemand spricht Englisch. Niemand hat von Wundversorgung eine Ahnung. Sie bringen Minipflaster. Nach und nach bringen Sie richtiges Verbandszeug. Gleichzeitig steigt die Angst, ich würde die Dinge nicht bezahlen wollen, die nicht gepasst hatten. Notdürftig verbunden verlasse ich die Apotheke. Setze mich ins nächste Cafe und ruhe etwas. Dann weiter zur Unterkunft. Ich lege mich ins Bett und sinke in einen tiefen Schlaf. Das Kniegelenk beginnt jetzt erst richtig zu schwellen.

 

 

By | 2018-12-20T20:31:40+00:00 30.05.2017|Categories: Ukrainie-2017|0 Comments

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Ukraine

Eine Stelle nahe Rachiw (das Dorf Dilowe) in der Ukraine mit den Koordinaten ♁47° 57′ 46″ N, 24° 11′ 14″ O wurde 1887, als die Region ein Teil der k.u.k.-Monarchie war, als geographisches Zentrum Europas berechnet. Wegen des Baues der Eisenbahnlinie Rachiw–Sighetu Marmației (ungarisch: Máramarossziget) wurden damals Vermessungsarbeiten durchgeführt. Im Verlauf dieser Arbeiten stellten die Ingenieure fest, den geographischen Mittelpunkt Europas eingemessen zu haben. Nach gründlicher Überprüfung bestätigten Wiener Wissenschaftler diese These. 1887 wurde ein 2 m hohes geodätisches Denkmal aus Beton errichtet, welches im Original bis heute erhalten ist. Die Stelle ist mit einer Gedenktafel mit lateinischer Inschrift gekennzeichnet:

Locus Perennis Dilicentissime cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confecta cum mensura gradum meridionalium et parallelorum quam Europeum. MDCCCLXXXVII.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Ernst Bloch:

»Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. Sie tragen vielmehr Früheres mit, das mischt sich ein.

(…) Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.«